Das soziale Projekt “Integreat App” der Augsburger gemeinnützige GmbH Tür an Tür – Digitalfabrik gewinnt den Excellence Award 2020 in der Kategorie des nachhaltigsten Geschäftsmodells. Gleichzeitig holt die digitale Plattform für Migrant:innen den zweiten Platz in der Kategorie “Innovating for the Most Vulnerable and Disadvantaged”. Mit diesem Award werden Projekte ausgezeichnet, deren Kapital, Technologie und Ideen Inklusion fördern. Ein Grund mehr, um den CFO Fritjof Knier in unserer neuen Rubrik “Grüne Neune” zu interviewen.
1. Wann warst Du zuletzt mutig?
Ich bin ein weißer Mann in Deutschland. Es gibt sicherlich andere, die öfter mutig sein müssen, um Ihre Ziele zu erreichen. Trotzdem kann man es sicherlich als mutig bezeichnen, nach einem Studium in Finanz- und Informationsmanagement ein Social Startup mit ungewissem Ausgang zu gründen, statt in einen gut bezahlten Job in die Wirtschaft zu wechseln. Aber ich bereue die Entscheidung bis heute keine Sekunde.
2. Was bedeutet die Auszeichnung der Financial Times und der Ikea Foundation für euch?
Diese Auszeichnung erfüllt mich mit Stolz, weil sie die Leistungen des gesamten Teams würdigt. Unsere Arbeit für Chancengleichheit unabhängig von der eigenen Herkunft rückt so auch international weiter in den Fokus.
3. Warum habt ihr die App Integreat entwickelt?
Bis heute arbeitet das haupt- und ehrenamtliche Team hinter Integreat daran, Informationsarmut und Sprachbarrieren abzubauen. Menschen, die neu in Deutschland ankommen, müssen oft in kurzer Zeit für ihr Leben wegweisende Entscheidungen treffen. Für diese Entscheidungen brauchen sie alle relevanten Informationen und genau die liefert Integreat. In ihrer eigenen Sprache und immer abrufbar.
Die Idee zur App und zu dieser Art von digitalem Medium entstand erst in der Zusammenarbeit mit Integrationsexpert:innen und Migrant:innen selbst. Zuerst war geplant lediglich die Broschüre als PDF-Datei neu aufzulegen, mit der App als Begleitmedium. Nach fast 5 Jahren hat sich Integreat selbst übertroffen und ist das zentrale Informationsmedium.
4. Wer steckt hinter der App?
Das Gründerteam bestand 2015 aus drei Augsburger Informatikern und Wirtschaftsinformatikern: Martin Schrimpf, Daniel Kehne und Daniel Langerenken. Zum damaligen Zeitpunkt waren alle in der Endphase ihres Studiums und entwickelten Integreat ehrenamtlich und nebenbei. Martin Schrimpf (jetzt Forscher am MIT in Boston) und Daniel Langerenken (jetzt Berater bei Oracle im Silicon Valley) zogen beide zum Ende ihres Studiums 2016 beide in die USA. So übernahm Daniel Kehne das damals noch lose Projekt Integreat und holte sich mit Fritjof Knier und Sven Seeberg zwei neue Unterstützer an Bord.
Sven Seeberg hatte zu dem Zeitpunkt eine ähnliche App-Idee bereits in Bad Tölz angestoßen und übernahm dann die technische Leitung im Integreat-Projekt. Im Juni 2016 gründeten die TU München und Tür an Tür dann eine eigene Organisation, die Tür an Tür – Digitalfabrik gGmbH, die für die langfristige und nachhaltige Weiterentwicklung von Integreat eintritt. Als Geschäftsführer wurden Daniel Kehne und Fritjof Knier eingesetzt.
5. Wie kam es zu der Idee von Integreat bei Tür an Tür?
Die Idee von Integreat ist eigentlich schon 23 Jahre alt. 1997 haben der Verein Tür an Tür, der damalige Augsburger Flüchtlingsrat, Diakonie und Caritas gemeinsam die Broschüre “First Steps” veröffentlicht. Sie sollte neu ankommenden Menschen ermöglichen, lokale Angebote und Informationen in ihrer Muttersprache zu finden.
Doch kaum war die Broschüre damals in Augsburg verteilt, waren Informationen auch schon wieder veraltet. 2015 kam die Idee bei Tür an Tür auf, die Broschüre mit neuen Medien abzubilden. Zu dem Zeitpunkt waren unzählige Fehlinformationen im Umlauf und es gab an vielen Stellen Schwierigkeiten im Übersetzungsprozess. Printmaterialien, die damals erstellt wurden, hatten mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie Ende der 90er Jahre. Tür an Tür, die Stadt Augsburg und die Technische Universität München haben sich daher zusammengesetzt und mit Integreat eine Lösung konzipiert, die zum einen Zielgruppen-gerichteter funktioniert und zum anderen weniger Pflegeaufwand kostet.
6. Warum wurde die App gemeinsam mit der TU München und nicht mit der Uni Augsburg entwickelt?
Daniel Kehne und Fritjof Knier studierten seit 2015 gemeinsam im Master Finance & Information Management (FIM), ein Verbundsstudiengang der Uni Augsburg, Uni Bayreuth und der TU München. Der Leiter des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik, Prof. Krcmar, war von Beginn an – auch wegen seiner eigenen Migrations-Geschichte – begeistert von der Idee und wollte das Vorhaben unterstützen. Zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit war die TU München ebenfalls gerade beratend in einem Projekt für eine Willkommensapp in Dresden involviert. So kam es zu der engen Zusammenarbeit mit der TUM. Die Uni Augsburg war ebenfalls involviert – wenn auch etwas unverbindlicher – und unterstützte bei der Anschaffung von Materialien oder der Akquise von Ehrenamtlichen über den uniweiten Newsletter.
7. In welchen Kommunen wird die Integreat App eingesetzt?
Die in Augsburg entwickelte Lösung wurde in Fachkreisen schnell bekannt und wird mittlerweile in mehr als 70 Kommunen in Deutschland eingesetzt. Darunter sind auch die Stadt und der Landkreis Augsburg. Auch wenn die Fragen im Integrationsbereich oft die gleichen sind, so unterscheiden sich die Antworten von Region zu Region.
Entscheidend für den Erfolg und die Verbreitung war das Open Source-Geschäftsmodell. Es sorgt nicht nur dafür, dass der Programmcode öffentlich einsehbar ist und erhöht damit die Transparenz für alle Beteiligten, sondern es sorgt auch dafür das eine Weiterverbreitung von Technologie und Inhalten ohne große Klärung von Lizenz- und Eigentumsfragen möglich ist.
8. Was haltet ihr vom neuen KI-Zentrum, das nach Augsburg kommen soll und mit 90 Millionen gefördert werden soll?
Künstliche Intelligenz ist eine der bedeutendsten Technologien unserer Zukunft. Natürlich begrüßen wir es, wenn Innovationen getätigt werden, die Wirtschaft und Wohlstand ankurbeln – wie es in diesem Fall auch das Augsburg zum KI-Zentrum werden soll. Leider wird auch in Deutschland noch viel zu zögerlich und oft viel zu spät in neue Technologien investiert. Das Ziel lautet dann oftmals “nicht abgehängt werden”, statt die Ambitionen für einen “innovativen Leuchtturm” ganzheitlich zu untermalen, auch wenn es politisch oft anders klingt und Bayern nun wohl auch KI-Standort Nummer 1 werden soll. Viele unserer Partner-Landkreise in Bayern warten noch immer auf funktionierende Breitbandausbau und flächendeckendes Internet, ein Vorhaben, das schon vor vielen Jahren versprochen wurde.
Als NGO, die sich stark dem Thema Datenschutz verschreibt, sehen wir KI auch immer aus einem zweiten Blickwinkel. Daten sind unsere neue Währung. Neben dem “Wie” sollten sich besonders die Akteure in staatlich geförderten KI-Projekten aus unserer Sicht auch vermehrt dem Warum widmen und ethische Diskussionen nicht scheuen.
9. Was braucht es in Augsburg, damit mehr Social Startups gegründet werden?
Das Wichtigste, was wir in Augsburg brauchen, sind starke Vorbilder. Social Startups sind letztendlich Unternehmen, die Innovation dazu nutzen, gesellschaftliche Probleme zu lösen. Natürlich ebenfalls unternehmerisch und mit funktionierendem Geschäftsmodell, nur eben mit einer anderen Zielsetzung als dem klassischen wachstums- und gewinnorientiertem Maximieren von Erträgen. Für Social Startups steht die Wirkung, der Systemwandel und gesellschaftliche Veränderung im Vordergrund. Was gibt es Besseres?
Vorbilder bringen aber nichts, wenn niemand sie kennt. Das heißt, wir brauchen mehr Presseberichte und mehr Unterstützung durch die Politik. Gerade in der Bildungsarbeit kann mit kleinen Wettbewerben oder Projekten schon Spaß am Gründen von (Social) Startups geweckt werden. Vor allem die Fridays-for-Future-Generation wird wirtschaftliche Vorgehen hinterfragen und nach Alternativen suchen. Da kommen andere Optionen mit mehr Sinn genau richtig.
Foto-Credits: Tür an Tür